Ein Blick in die Vergangenheit

Es ist das Jahr 1150. Absolute Stille liegt über dem Kloster Volkenroda und der ländlichen Gegend. Um zwei Uhr nachts durchdringt ein Glockenschlag die Ruhe und weckt die Zisterziensermönche im Schlafsaal. Sie erheben sich ruhig von ihren Strohsäcken und gehen schweigend durch den gemauerten Kreuzgang in ihre Kirche zum Nachtgebet. Wie ihr Ordensgründer, der heilige Benedikt, haben sie ihr Leben dem Gebet und der Arbeit – hauptsächlich dem Ackerbau und der Viehzucht – verschrieben. Achtmal am Tag und in der Nacht kommen sie zum Lob Gottes zusammen, bis es 400 Jahre später jäh verstummt. Das Kloster wird im Bauernkrieg massiv zerstört und schließlich im Zuge der Reformation ganz aufgelöst.

Die Wende

Das Gebet steht bis 1990 still und das Kloster liegt brach. Ulrike Köhler lebt zu dieser Zeit mit ihrer Familie in Volkenroda und hat in einem Gebetsimpuls folgende Idee: Ich werde nicht eher ruhen, bis in dieser verfallenen Kirche wieder gebetet wird. Gewagte Worte, denn die Kirche ist einsturzgefährdet und der ganze Ort steht nach der Wiedervereinigung vor großer Arbeits- und Perspektivlosigkeit. Ulrike Köhler findet engagierte Mitstreiterinnen und Mitstreiter für ihre Vision. Über diese Zeit sagt sie heute: Ich bin zur Ortsvorsteherin gewählt worden und wir haben vier Jahre lang Tag und Nacht an diesem baufälligen Ort und der Kirche gearbeitet, die nur unter Lebensgefahr zu betreten war. Mithilfe von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und 40 ABM-Kräften haben wir einfach angepackt. Wir haben buchstäblich Schubkarren an Dreck und Schutt von Jahrzehnten weggefahren.

Ulrike Köhler
Ulrike Köhler – die Frau der ersten Stunde

Architektur und Spiritualität – eine gelungene Mischung

Auf dem Areal des alten Klosters entsteht in den nächsten 30 Jahren ein modernes Kloster, das wie ein Leuchtturm weit über die Region hinaus strahlt. Der architektonische Leitspruch „Auf den Fundamenten von gestern mit den Materialien von heute für morgen bauen“ ist überall auf dem großen Klosterareal sichtbar. So sind in der neuen Mensa, wie früher Refektorium genannt, die alten Steine mit verbaut, werden aber durch viel Glas und Stahl ergänzt. Das neue Konventgebäude steht anstelle des fast komplett zerstörten Kreuzgangs und symbolisiert auch architektonisch die Spannung zwischen Vergangenem und Neuem. Überall ist Lebendigkeit und Erneuerung zu spüren und dennoch sind das Alte und das Erbe der Zisterzienser präsent und greifbar.

Genau in der Mitte Deutschlands gelegen, unterstützt das Kloster Volkenroda die Einheit der Christen und die Erneuerung der Kirche durch ökumenische und niederschwellige Angebote für am Glauben interessierte Menschen. Es könnte kaum anders sein in einem Kloster, das katholisch gegründet und um 1600 lutherisch wurde. An diesem verbindenden Ort hat der Christus-Pavillon der Architekten Gerkan, Marg und Partner, der auf der EXPO 2000 in Hannover stand, seinen endgültigen Platz gefunden und wird für Gottesdienste und Konzerte genutzt. Seine Architektur ist ganz im Sinne der Zisterzienser gestaltet. Ein moderner Kreuzgang, klare Formen und das Spiel mit dem Licht dienen der Begegnung untereinander und mit Gott.

Besuchermagnet in der Mitte Deutschlands

So darf der architektonische Leitspruch auch inhaltlich und spirituell verstanden werden. Das vielfältige Programm zieht jedes Jahr 30.000 Gäste an und macht Gott und Glauben erfahrbar. Im Kloster auf Zeit wird in kleinen Wohnwagen ausprobiert, ob ein Leben als Schwester oder Bruder infrage kommt. Die Gospeldays, bei denen Menschen von zwölf bis 99 Jahren zum gemeinsamen Singen zusammenkommen, sind regelmäßig ausgebucht. Zu den Christus-Wallfahrten oder den Sommerkonzerten finden sich viele Hunderte Menschen im Christus-Pavillon zum Gottesdienst oder zum Musikgenuss ein. Kinder und Jugendliche besuchen den Schulbauernhof oder die jährliche Sommerbibelschule. Im Seminarhaus werden Interessierte in verschiedenen Programmen ausgebildet, damit sie das Feuer des Glaubens in ihre Heimatkirchen bringen. Einkehr und Stille findet sich auf den beiden Pilgerwegen, die zu den ehemaligen Tochterklöstern der Zisterzienser Loccum und Waldsassen führen, oder auf dem klösterlichen Meditationsweg. Viele Menschen verspüren eine Sehnsucht, an diesen Ort zu kommen, aufzutanken und in ein erneuertes klösterliches Leben einzutauchen.

Ein entscheidender Baustein der erfolgreichen Transformation ist neben der herausragenden Architektur die spirituelle Nachnutzung des Klosters durch eine moderne Ordensgemeinschaft. Ulrike Köhler erinnert sich noch gut daran, wie es dazu kam:

Wir haben uns aktiv nach Nachnutzern umgesehen. Schließlich kam der Kontakt zur Jesus-Bruderschaft Gnadenthal zustande. Im Jahr 1994 hat diese Gemeinschaft die Gebäude gekauft und so haben wir – die Gruppe vor Ort und die Kommunität – den Ort partnerschaftlich weiter aufgebaut. Nach der Wende gab es ja viele finanzielle Fördermöglichkeiten für solche Projekte.

Eine moderne Kommunität

Die neue Gemeinschaft trägt das Kloster Volkenroda geistlich in die Zukunft und organisiert sich als Jesus-Bruderschaft Volkenroda. So klingt auch im Jahr 2021, rund 500 Jahre nach den Zisterziensern, Glockengeläut durch die morgendliche Stille und ruft zum Morgengebet. Nicht nur zwei Brüder finden sich in der Zisterzienserkirche ein, sondern auch zwei Schwestern, eine Witwe, eine ledige Frau und drei Ehepaare kommen zum Lobpreis zusammen. Sie treffen sich täglich zu einem Morgengottesdienst und drei Gebetszeiten, zu denen auch Externe eingeladen sind. Als Mitglieder der ökumenischen Kommunität richten sie wie ihre Vorgänger ihr Leben ganz auf Gott und die tägliche Arbeit aus. Mit der Besonderheit, dass sie selbst für ihren eigenen Lebensunterhalt sorgen.

Ein Mitglied ist Bruder Helmut, der schon seit 1994 in Volkenroda ist. Für ihn sind Gebet und ein normales Berufsleben kein Widerspruch: Für mich ist das ein Stück weit wie eine Berufung. Einerseits lebe ich mein klösterliches Leben mit Gebet und Gottesdienst, aber andererseits bin ich mit Leib und Seele als Unternehmer für die Menschen da.

Bruder Helmut
Bruder Helmut kam von der Jesus-Bruderschaft Gnadenthal kurz nach der Wende nach Volkenroda.

Momentan besteht die Kommunität aus zwölf Mitgliedern und hat den Anspruch, sich immer wieder neu für die jeweilige Zeit und die Bedürfnisse der Menschen aufzustellen. Bruder Helmut ist sich der Herausforderungen bewusst: Das zölibatäre Leben wird von den Menschen nicht mehr so häufig nachgefragt. Wir stehen in diesem Bereich vor einem Umbruch, aber als Kommunität sind wir breiter aufgestellt, da wir uns aus ledigen Frauen und Männern sowie Familien zusammensetzen.

Ulrike Köhler ist sich bei allem, was noch kommen wird, sicher: Neben allem Herzblut braucht es Glauben, denn ohne Gott, ohne etwas Größeres, ist so etwas wie hier nicht zu schaffen. Das kann man nicht selber machen, das muss sich fügen.

Was sich in den letzten 30 Jahren in dem kleinen Ort gefügt hat, ist mehr als beeindruckend und wird zu Recht das Wunder von Thüringen genannt. Das Kloster Volkenroda strahlt spirituell und architektonisch weit über die Mitte Deutschlands hinaus. Tradition und Moderne kommen an diesem Ort zusammen und erzählen die Geschichte einer gelungenen Transformation, die noch lange nicht zu Ende ist. Und die Glocken der ältesten Zisterzienserkirche Deutschlands rufen schon wieder zum Gebet, aus dem alles Weitere entsteht.